Ohne große Umschweife komme ich nach einer erholsamen Nacht zu all den Ereignissen, die unsere Zeit in Sari so besonders und intensiv haben werden lassen. Zunächst versuche ich den groben Ablauf zu rekonstruieren.
Als wir gegen 13:30Uhr am Dienstag mit dem Zug in den Bahnhof von Sari einrollten, stand Javid* schon bereit, um uns abzuholen. Noch bevor wir seine Wohnung erreichten, zeigte der begeisterte Feuerwehrmann uns seinen Arbeitsplatz und präsentierte uns stolz die gewaltigen Einsatzwägen mit Equipment für jeden erdenklichen Einsatz. Es gesellten sich immer mehr Kollegen dazu, die „Hello“ sagen wollten. Am Ende der kurzen Visite schüttelten wir die Hand des Feuerwehr-Kapitäns von Sari und ließen uns mitsamt originaler Helme und der ganzen Crew vor einem der roten Wägen ablichten.
Kurz darauf – wir hatten eigentlich nur unsere Taschen in Javids* Wohnung abgelegt und dort einen Tee getrunken – wurden wir zum Mittagessen ausgeführt und danach durch das Zentrum Saris hindurch geführt. Javid* zeigte uns den Bazaar, eine Gasse mit 13 Kurven und einen Schrein, bei dem um einen Nachfahren der für die schiitischen Muslime zentralen 12 Imame getrauert wird (genauer erkläre ich das später, wenn ich es selber besser verstanden habe). Am interessantesten fanden wir aber die riesige Moschee, die bei einem Großbrand vor einem Jahr fast gänzlich zerstört wurde. Während wir durch die Ruinen liefen, schilderte uns Javid* Details von dem Einsatz, bei dem er von herunterfallenden Steinen getroffen wurde, von Feuer umgeben die Orientierung verlor und sich in ein Wasserbecken im Innenhof der Moschee rettete.
Einen Tee in einem Lokal eines Freundes von Javid* später schrieb ich den Journal-Eintrag um 21:10Uhr und war im Anschluss ganz froh darüber, dass sich die Pläne für den Abend noch einmal geändert hatten und wir das sehr geräumige Apartment mit gleich fünf Zimmern nicht mehr verlassen mussten. Stattdessen bekamen wir Besuch von Javids* besten Freunden. Tarek* und Feras* sind beide Mitte zwanzig und werden von einem jugendhaften Schelm angetrieben, der sie zu immer neuen Scherzen und Albernheiten verleitet. Karim* hingegen ist mit seinen 34 Jahren ganz klar der Ruhepol der Clique. Er strahlt Gelassenheit aus und gibt sich höflich zurückhaltend. Obwohl keiner von den dreien Englisch spricht und Javid* manches übersetzen musste, war es alles andere als schwer mit dieser sympathischen Truppe die gemeinsame Zeit zu genießen und sie ins Herz zu schließen. Javid* hatte nicht nur hausgemachten Schnaps sondern auch selbst gebrautes Bier dabei. Trotz des rigorosen Alkoholverbots im ganzen Land, war es nicht das erste Mal, dass wir mit der flüssigen Droge in Berührung kamen. Hadi* betreibt eine kleine Winzerei im Keller und servierte uns in Tabriz Wein aus eigener Produktion. Auch viele andere erzählten uns davon, dass sie im Privaten Alkohol trinken würden. Tareks* Bier jedenfalls schmeckte ganz köstlich und irgendwie wie ein Mix aus Weizen und Hellem.
Der nächste Tag begann früh und stand ganz im Zeichen eines wilden Ausfluges. Das Stadtmuseum von Sari machte den Anfang. Danach stießen Karim* und Tarek* zu uns. Im Auto von Karim* fuhren wir zu einer alten Moschee in Farah Abad und im Anschluss zum nahe gelegenen Strand des Kaspischen Meeres, um dort Asch, eine dickliche Nudelsuppe, zu essen. Daraufhin peilten wir die Stadt Behschar an, wo wir zunächst eine Ausgrabungsstätte besuchten, wie ich sie noch nie gesehen habe. In dem prähistorischen Dorf mit Hanglage sollen vor zirka 7000 Jahren Menschen gelebt haben. Die knöchernen Überreste dieser Gemeinschaft lagen in Form gut erhaltener Skelette innerhalb der freigelegten Dorfstrukturen. Als wir dann unser letztes Ausflugsziel ansteuerten, waren Alex und ich bereits so sehr vom Schlafmangel gezeichnet und von Eindrücken überfrachtet, dass wir zombiegleich im Auto saßen. Witzigerweise hatte sich das ohnehin schon mieserable [sic!] Wetter weiter verschlechtert und so konnten wir von dem auf Fotos recht malerisch ausschauenden Gebirgssee im dichten Nebel gerade einmal die ersten zehn Meter der Wasseroberfläche erkennen.
Wieder zurück in Sari begann das heikelste Unterfangen des Aufenthalts. Unter dem Vorwand, ich würde ein Weihnachtsgeschenk für Xändi besorgen, stahl ich mich trotz der Proteste und Einwände von Javid* alleine aus dem Haus, um ihm ein Gastgeschenk zu organisieren. In einem Musikfachhandel konnte ich nicht nur Sticks für den Hobby-Schlagzeuger besorgen, sondern lernte auch Liyan* kennen. Schnell stellte sich heraus, dass Liyan* einst der Schlagzeuglehrer von Javid* war und die zwei seitdem befreundet sind. Auf seinem Motorrad half er mir dabei, einen fähigen Graveur zu finden. Obwohl der Handwerksmeister gerade in den Feierabend gehen wollte, brachte er noch die Inschrift „Alex & Michael Thank you“ auf einen der Holzstäbe und nahm letzten Endes nicht einmal Geld dafür an, weil er mir als Gast aus Deutschland damit ein Geschenk machen wollte.
Ich war noch nicht lange zurück, da versammelte sich die Crew schon wieder in Javids* Wohnzimmer. Kebab vom Schaf, gegrillte Tomaten und viel Reis versorgten uns prächtig. Zu später Stunde, gegen 01:30Uhr in der Nacht, holte Feras* sein Auto und fuhr uns zu einem Treffpunkt der besonderen Art. Auf einer im Kreis durch die Innenstadt verlaufenden Hauptstraße rasen einige junge Erwachsene in ihren Pkws umher. In der Abwesenheit von Diskotheken und Kneipen scheint es eine Möglichkeit zu sein, wie sich Jungs und Mädels zumindest etwas näher kommen können. Das im Körper so manchen Fahrers ausgesendete Testosteron wird auf der Straße in hohe Geschwindigkeiten über 100km/h, waghalsige Manöver und Beschleunigungs-Duelle umgewandelt.
Nun probiere ich mich mal daran, die Gastfreundschaft zu beschreiben. Natürlich beginnt diese immer mit der Person selber, die uns aufnimmt. Javid* ist ein unglaublich liebenswürdiger und gutherziger Mensch. So liebt er beispielsweise seinen Job als Feuerwehrmann, weil er anderen Menschen helfen kann. Darüber hinaus geht er mit wahnsinnig viel Humor durchs Leben und ist immer für einen kleinen Gag oder eine kurze, amüsante Showeinlage zu haben. Es war also sehr leicht, uns bei ihm wohl zu fühlen.
Weiter geht das soziale Spiel mit vielen Kleinigkeiten, die immer wieder im Alltag aufkommen. So können wir zum Beispiel nicht als letzte durch eine Tür gehen, werden immer vorgelassen. In der Wohnung dürfen wir keinen Finger rühren, wenn es darum geht, Essen zuzubereiten, aufzuräumen oder den Abwasch zu machen. Bei jedem Lebensmittel, das wir probieren, und bei jeder Sehenswürdigkeit, die wir anschauen, fragt man uns, ob es uns auch gefällt und etwas später nochmal, ob es denn auch wirklich gut war. Hinzu kommen zahlreiche Erkundigungen darüber, ob es uns auch gut geht und ob wir müde sind. Hier wird zwar immer wieder betont, dass es absolut kein Problem wäre, wenn wir etwas nicht mögen würden oder eine Pause bräuchten. Gleichzeitig ist aber klar, dass in solch einem Fall die Enttäuschung riesig wäre. Schon oft wurde es uns wortwörtlich als „Pflicht“ des Gastgebers beschrieben, seine Gäste glücklich zu machen. Und so beißen wir manchmal lieber in den sauren Apfel und behaupten, alles sei bestens, anstatt Gefahr zu laufen, den ohnehin schon übereifrigen Gastgebern das Gefühl zu vermitteln, sie würden ihre Pflicht nicht erfüllen. Es ist – wie bereits erwähnt – ein soziales Spiel, dessen Regeln uns aus Deutschland, wenn überhaupt, dann nur in Ansätzen bekannt sind.
Noch komplizierter wird es beim Geld. Denn obwohl wir ohnehin schon umsonst übernachten und mit 2000 Dollar in der Tasche ungefähr ein ganzes Jahresgehalt von unseren Gastgebern mit uns herum tragen, ist es eine äußerste Seltenheit, dass wir etwas bezahlen dürfen. Alleine das Zücken meines Geldbeutels wird hin und wieder schon beinahe als Affront aufgefasst. Doch so ganz falsch, es zumindest zu probieren, kann es, glaube ich, auch nicht sein. Javid* erzählte uns wie es unter Iranern üblich ist, sich darum zu streiten, wer die Rechnung zahlen darf und sich mit der Geldkarte am Tresen an den eigenen Freunden vorbeizudrängeln. Sich gänzlich ohne Gegenwehr einfach ständig einladen zu lassen, könnte demnach auch als sehr unhöflich aufgefasst werden. Sicher bin ich mir bei diesem Thema aber überhaupt nicht.
Insbesondere nachdem wir Javid* die Drumsticks bereits am Mittwochabend überreichten und er davon so gerührt war, dass er den Tränen nahe kam, konnten wir uns gestern vor lauter Abschiedsgeschenken nicht mehr retten. Kurz vor unserem Aufbruch besuchten wir Javids* Oma im Erdgeschoss. Die gläubige und äußerst herzliche ältere Dame hatte sichtlich Freude und wollte gar nicht mehr damit aufhören, uns mit Kleinigkeiten zu überhäufen. Nach einem birnenförmigen Holzgefäß und einem kleinen Plastik-Spielzeugmann, kramte sie Tee und roten Zucker, einen blockartigen Extrakt aus Rohrzucker, aus ihrer Küche hervor. Xändi wurde darüber hinaus mit handgestrickten und viel zu kleinen Socken sowie mit einem weißen Dekorations-Herz für ihre kirchliche Hochzeit beschenkt. Auch Javid* konnte nicht an sich halten. Eine ganze Tüte voller Früchte, Chips und Flips für die Reise, Safran und die getrocknete und zerkleinerte Haut einer speziellen Orangen-Sorte mussten plötzlich in unsere Rucksäcke hinein passen. Noch bevor wird in Karims* Auto zum Sammelplatz für Savaris nach Gorgan fuhren, verabschiedete sich Javid* für eine knappe Stunde und kehrte mit einer kleinen Tasche zurück. Für Xändi hatte er ein wirklich schönes Kopftuch in dunklen Rot- und Blautönen besorgt. Ich bekam ein noch bezaubernderes Paar aus einer Hals- und einer Armkette. „Damit ihr mich nicht vergesst“, sagte er dabei. Doch wie sollten wir das ohnehin schaffen?
Auch die kurze Motorrad-Fahrt zusammen mit Liyan* war äußerst aufschlussreich. Schon fast etwas entsetzt fragte er mich, wo Javid* denn sei und erklärte mir danach, dass es sich für einen Gastgeber nicht gehören würde seine Gäste alleine und ohne Begleitung in die Stadt zu entlassen. In diesem Moment wurde mir klar, dass hinter dem komplexen Gebilde der iranischen Gastfreundschaft nicht ausschließlich ein innerer Antrieb der Gastgeber, sondern zumindest ein wenig auch ein sozialer Druck steht, der dem Gastgeber auferlegt, seine „Pflichten“ auch gewissenhaft auszuführen. Sobald ich die Grüße von Liyan* ausgerichtet hatte, griff Javid* zum Telefon; vielleicht auch um zu erklären, dass er mich nicht so einfach alleine in die Stadt gehen ließ.