Unverzüglich geleitete man uns am späten Montagnachmittag vom Eingang der kleinen Siedlung Bardieh Kutschek zum Haus unseres neuen Gastgebers Sayyid Akif*. In dem eingeschossigen Domizil wurde uns ein geräumiges Zimmer zugeteilt. Von nun an trudelten immer mehr Menschen, vorrangig junge Männer oder Kinder, ein, waren ganz aufgeregt über den unerwarteten Besuch aus einem so fernen Land und begrüßten uns euphorisch. Zunächst gab Sayyid Sharif* sein Bestes, um ein wenig zu übersetzen. Überschwänglich schwärmten unsere Gastgeber von Deutschland, outeten sich als Fans unserer Fußball-Nationalmannschaft und nannten ihre Lieblingsspieler. Einige äußerten sogar den Wunsch nach Deutschland auszuwandern. Natürlich wurden wir auch interessiert ausgefragt über das Leben in unserer Heimat. Sie wollten zum Beispiel wissen, wie das Studieren in Deutschland funktioniert, welche Religionen es bei uns gibt oder auch wie wir das Geld für so eine lange Reise ansparen konnten.
Kurz vor dem Abendessen traf Ahmad* ein. Als Englischlehrer war der aufgeweckte, junge Mann eine große Hilfe dabei zu kommunizieren. Schnell wurde klar, dass sich die gesamte Großfamilie und damit die Hälfte des Dorfes bei Sayyid Akif* versammelte. So saßen Cousins, Neffen oder Onkel von ihm in der Runde. Ebenso deutlich wurde, dass unsere warmherzigen Gastgeber einen eher konservativen Lebensstil pflegen. Der Islam nimmt in dem schiitischen Haushalt eine große Rolle ein. Kurz nach dem Eintreffen, als die Sonne untergegangen war, wuschen sich die Familienmitglieder im Gesicht sowie an Händen und Füßen. Einer nach dem anderen breitete dann vor uns einen Gebetsteppich aus und sandte für drei oder vier Minuten einige Worte in Richtung Mekka. Die Geschlechterrollen sind klar verteilt. Frauen haben sich um den Haushalt zu kümmern und das Essen zuzubereiten. Männer verlassen das Haus und gehen arbeiten. Sie stehen der Familie vor und vertreten sie nach außen hin. Auf das Tragen des Hidschabs, also des islamischen Kopftuches, wird auch von den Frauen selber großer Wert gelegt.
Wie schon als wir in Abadan durch die Straßen liefen hörten wir auch in Bardieh kaum einen Satz auf Farsi. Die Familie von Sayyid Akif* gehört zur arabischsprechenden Minderheit im Iran, die in der Provinz Chuzestan einen großen Anteil der Bevölkerung stellt. Wir konnten viele interessante Details der Traditionen und Bräuche dieser Region miterleben. Betritt ein neuer Gast den Raum, dann spricht er zur Begrüßung „Salam `aleikum“, was frei übersetzt ungefähr „Friede sei mit dir/euch“ bedeutet. Die Anwesenden antworten darauf mit „`aleiki salam“. Unter den Männern ist es üblich sich die Hand zu geben, einen Kuss auf die linke Wange auszutauschen und danach sich mit der rechten Schulter zu berühren. Ein Handschlag zwischen Mann und Frau ist nur dann gestattet, wenn sich die zwei nicht heiraten können, sprich wenn es sich um Geschwister, Kinder, Neffen, Enkel, Onkel, Tanten, Eltern oder Großeltern handelt. Schon zwischen Cousinen und Cousins ist eine Trauung möglich und darüber hinaus alles andere als unüblich.
Auch aus kulinarischer Sicht gab es viele Besonderheiten. Ihren Tee trinken viele Araber, indem sie den Inhalt ihres kleinen Glases zunächst auf den Untersetzer gießen und dann daraus schlürfen. Kaffee wird in sehr kleinen Portionen aus einer Dalleh, einer bauchigen Schnabelkanne, serviert. Er ist sehr bitter und äußerst stark. Wenn man nachgeschenkt bekommen möchte, reicht man seine Tasse einfach dem Dalleh-Träger zurück. Hat man genug, so kippt man die Tasse während der Rückgabe hin und her. Zum Frühstück konnten wir dabei zusehen, wie die Frau unseres Gastgebers ein traditionelles Fladenbrot aus Reismehl backte. Zusammen mit frischem Weichkäse und Rührei schmeckte es sehr lecker.
Drei Tage bevor wir in Bardieh eintrafen, hatten zwei Dorfbewohner geheiratet. Den Bräuchen folgend luden Braut und Bräutigam an den sieben Abenden nach der Hochzeit zu sich nach hause [sic!] ein. Auch wir statteten ihnen am Montag einen kurzen Besuch ab und mussten uns schon an der Eingangstür trennen. Alex ging zusammen mit den Frauen in ein Zimmer, ich setzte mich in eine reine Herren-Runde im Nebenraum. Bis zu 36 Männer jeglichen Alters saßen in einem großen Kreis auf dem Teppichboden, unterhielten sich untereinander oder stellten mir einige Fragen. Fast jeder wollte ein Foto mit mir machen. Ein Onkel aus Bagdad wurde per Videotelefonie dazu geschaltet und mir zum Gespräch hingehalten. Außerdem wurden mir Kekse und ein rotes Sirup-Getränk serviert, obwohl niemand sonst im Raum etwas hatte.
Sonst noch interessant: Das Wort Sayyid ist keineswegs ein Name, sondern ein unter schiitischen Muslimen geläufiger Ehrentitel, den ausschließlich männliche Nachfahren des Propheten Mohammed tragen dürfen.
Am Dienstag ließen es sich unsere Gastgeber nicht nehmen uns bis zu unserem nächsten Etappenziel Dezful zu fahren. Auf dem Weg stoppten wir bei zwei kleinen Hütten, in denen die Familien von zwei Brüdern Sayyid Akifs* über die kühleren Monate wohnen. Im Sommer, so sagte man uns, sei dort nur Wüste. Das war kaum zu glauben, denn der Regen der letzten Wochen hatte die Landschaft in eine grüne Wiese mit kleinen Hügeln verwandelt. Kühe und Schafe erfreuten sich an der frischen Nahrung. Wir genossen die Ruhe der Natur, spazierten im Schatten einiger Bäume umher und wurden zum Tee eingeladen. Spuren aus dem Iran-Irak-Krieg der 1980er Jahre hatten wir bereits in manchen Häuserfassaden Abadans entdeckt. Doch als uns einer der in ein weißes Gewand gekleideten Hirten eine nicht explodierte Fliegerbombe zeigte, von der nur der hintere Ring aus dem Gras heraus schaute, war ich doch etwas erschrocken.
Unseren letzten Zwischenstopp legten wir in Schusch, der Nachfolgestadt der historischen Siedlung Susa, ein. Hier befand sich vom 3. bis zum 1. Jahrtausend vor Christus das politische Zentrum des Reiches von Elam, einem Gegenspieler der Reiche von Babylon und Assyrien aus dem Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris. Es ging später im Persischen Reich auf und gilt vielen Iranern als Geburtsstätte ihrer Kultur. Der Prophet Daniel, ein jüdischer Traumdeuter und Namenspatron eines Buches des Tanach beziehungsweise des Alten Testaments, soll in Susa Zuflucht gefunden und dort im Exil gelebt haben. Sein Grabmal dient heute Muslimen als Pilgerstätte und konnte mich vor allem durch seine Außenansicht faszinieren. Ein weißer, spitz zulaufender Kegelturm ragt direkt über seinem Sarg aus dem Gebäude heraus. Er ist knapp 15m hoch und in waagerechten Abschnitten mit bauchigen Einkerbungen versehen, die ein regelmäßiges Muster entstehen lassen.
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